Wie sollte eine Gesellschaft im Jahr 2020 mit dem Denkmal eines Antisemiten umgehen?
Constantin Lager
Erschienen am 16. Oktober 2020, 12:00 auf: https://www.derstandard.at/story/2000120934727/karl-lueger-stachel-der-erinnerung
Mitte Juli wurde die Statue des zwischen 1897 und 1910 amtierenden Wiener Bürgermeisters Karl Lueger siebenmal mit der Aufschrift „Schande“ besprüht. Aktivistinnen und Aktivisten wollten damit auf jenen widersprüchlichen Menschen aufmerksam machen, der einerseits ein innovativer Kommunalpolitiker war, andererseits den Antisemitismus in Wien salonfähig gemacht hat und sogar in Hitlers „Mein Kampf“ als einer der „gewaltigsten deutschen Bürgermeister aller Zeiten“ geehrt wurde.
Doch worin besteht die eigentliche Schande? Die Schande besteht nicht darin, dass es im Jahr 2020 immer noch eine Statue eines antisemitischen Bürgermeisters in Wien gibt. Die Schande besteht darin, dass es im Jahr 2020 immer noch ein Denkmal und kein Mahnmal ist. Die Schande besteht auch nicht darin, dass Lueger immer noch Anerkennung für seine stadtplanerischen Leistungen, von denen Wien heute noch profitiert, bekommt. Die Schande besteht darin, dass sich im Jahr 2020 immer noch junge Menschen bemüßigt fühlen, mit Hammer und Meißel bewaffnet für Lueger in die Bresche zu springen, um sich einer kritisch- konstruktiven Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit entgegenzustellen. Und weit mehr als eine Schande, das ist das erschreckend Entsetzliche, ist die Gewaltbereitschaft, die diese jungen Männer an den Tag legten, als sie mit ihrem Pkw in die angemeldete Demonstration fuhren, als die Polizei untätig daneben stand.
Antisemitismus in der heutigen Gesellschaft
Was die letzten Tage und die emotionale Diskussion der letzten Jahre um Lueger eindrücklich zeigten, ist, dass der Antisemitismus in Österreich, so wie Lueger selbst, noch lange nicht Vergangenheit ist. Er grassiert in der Mitte unserer Gesellschaft und wird von einer jungen Generation offenkundig am Leben gehalten. Die Antisemitismus-Studie 2018, die von der Parlamentsdirektion in Auftrag gegeben wurde, unterstreicht dies. So ist ein manifester Antisemitismus, der sich etwa in dem Leugnen der Shoah zeigt, mit zehn Prozent in der österreichischen Bevölkerung vertreten. 30 Prozent der 2.700 Befragten wurde schließlich ein latenter Antisemitismus attestiert. Darunter fallen auch jene 39 Prozent, die der Aussage „Die Juden beherrschen die internationale Geschäftswelt“ zustimmen. Diese Aussage unter dem Label „latenten Antisemitismus“ zu subsumieren ist meines Erachtens jedoch irreführend. Es ist genau diese Stimmung, die den Antisemitismus von anderen abwertenden Rassismen unterscheidet und ihn so brandgefährlich macht.
Luegers Feindbilder
Dabei könnten wir aus der Geschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts und des beginnenden 20. Jahrhunderts viel lernen, denn die Wurzeln von Luegers Antisemitismus waren nicht nur ein jahrhundertealter christlicher Antisemitismus, der Juden und Jüdinnen als „Gottesmördervolk“ betrachtete, sondern auch der populistische Missbrauch von Minderheiten und der Aufbau von Feindbildern als Sündenböcke für soziale Schieflagen in Wien. Seine großen Feindbilder waren die zu dieser Zeit neu zugewanderten tschechischen Migrantinnen und Migranten – die sogenannten Ziegelbehm – und eben Juden und Jüdinnen, die als kapitalistische „Börsejuden“ oder intellektuelle „Tintenjuden“ in die Hetzreden Luegers eingingen. Die Historikerin Brigitte Hamann brachte es auf den Punkt: „Lueger verstand es, alle Feindbilder seiner Wähler in einer mächtigen Bewegung zusammenzufassen: dem Antisemitismus. Alles Widrige brachte er auf eine einfache Formel: Der Jud ist schuld.“
Als einer der ersten Rechtspopulisten, die mit Fremdenfeindlichkeit besonders erfolgreich auf Stimmenfang gingen, führte Luegers Politik zu einer gesellschaftlichen Verrohung. Die Lehren, die wir aus der Geschichte Luegers ziehen können, sind heute besonders aktuell, die Parallelen, wie heute noch über Minderheiten in unserer Gesellschaft gesprochen wird, erschreckend und die Warnrufe aus der Geschichte besonders laut. Sie dürfen nicht in einer emotional geführten Debatte um Lueger verstummen.
Was tun?
Doch wie kann oder, besser: sollte eine offene österreichische Gesellschaft mit dem Denkmal Luegers im Jahr 2020, in einer Zeit, in der der Antisemitismus immer noch in der Mitte unserer Gesellschaft gedeihen kann, umgehen?
Die Statue abzutragen, zu schleifen oder sie in ein Museum zu stellen wäre ein falscher Umgang damit. Denn auch der Antisemitismus von damals ist noch lange nicht eine Randnotiz der Geschichte. Antisemitismus ist heute immer noch ein aktuelles Problem. Die gewaltbereiten Extremisten der Identitären Bewegung sind traurige Kronzeugen eines gesamtgesellschaftlichen Versagens. Die Zusatztafel ist mit Sicherheit ein erster wichtiger Schritt, nur verblasst diese im Schatten Luegers. Die künstlerische Umgestaltung von einem Denkmal hin zu einem Mahnmal wäre hier ein wichtiger Schritt. Nur der unangenehme „Stachel im Fleisch“, wie es der Historiker Oliver Rathkolb ausdrückte, kann zu einem „Nie wieder“ beitragen. Wie so eine künstlerische Umgestaltung umgesetzt werden kann, dafür gibt es bereits zahlreiche Entwürfe, die in einem Open Call vor bereits zehn Jahren erarbeitet wurden. Das Siegerprojekt des öffentlichen Wettbewerbs mit dem Namen „Schieflage“ sieht vor, die Statue um 3,5 Grad nach rechts zu kippen. Die permanente Schieflage der Statue, so die Jury des Wettbewerbs, soll die Unsicherheit im Umgang mit der Vergangenheit symbolisieren. (Constantin Lager, 16.10.2020)